Das SID-Kalenderblatt am 4. September: Meyfarth wird zum Wundermädchen

Das SID-Kalenderblatt am 4. September: Meyfarth wird zum Wundermädchen
Plötzlich wurde es "so unglaublich still im Stadion, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören", sagte Ulrike Nasse-Meyfarth einmal dem SID.
Köln (SID) - Plötzlich wurde es an diesem denkwürdigen 4. September 1972 wieder "so unglaublich still im Stadion, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören", sagte Ulrike Nasse-Meyfarth einmal dem SID: "Und dann tobten wieder alle los."
Nasse-Meyfarth, eine damals noch völlig unbekannte 16-Jährige, versetzte knapp 80.000 Zuschauer in Ekstase, das Münchner Olympiastadion bebte und Millionen an den Fernsehern trauten ihren Augen nicht, als der Teenie mit 1,90 m zum Gold und über 1,92 m zum Weltrekord floppte. Ein Moment, der vielen Fans noch heute Gänsehaut beschert.
"Leute erzählen mir, wo sie das miterlebt haben, dass sie etwa gerade im Taxi saßen und Radio hörten", sagte Nasse-Meyfarth: "Natürlich ist der Sieg im eigenen Land vielen Menschen präsenter als der bei der Nachtschicht in den USA."
Mit 16 wurde Nasse-Meyfarth als Wundermädchen gefeiert, zwölf Jahre später stieg sie in Los Angeles zur Golden Lady auf: Mit ihren beiden Olympiasiegen wurde die Hochspringerin zum absoluten Darling der Nation. 1972 in München noch ein schüchternes Küken, das wie aus dem Nichts ins Rampenlicht sprang, zwölf Jahre später in L.A. der erneute Triumph als selbstbewusste Athletin - eine filmreife Geschichte vor den Toren Hollywoods.
"Da hat sich der Kreis geschlossen. Es war eine schöne Zeit, die einem keiner mehr nehmen kann", sagte Nasse-Meyfarth. Zweimal Gold bei Olympia mit zwölf Jahren Abstand - für eine Frau einmalig in der Geschichte der Sommerspiele.
Ihr Coup von München hat sich in das kollektive Gedächtnis der Deutschen zwar viel tiefer eingebrannt, doch für Nasse-Meyfarth glänzt das Gold von L.A. wertvoller. "Ich wollte allen beweisen, dass ich keine Eintagsfliege war. München 1972, da war ich 16, da ist mir Gold quasi in den Schoß gefallen", sagte die 64-Jährige: "Danach habe ich den Anschluss verloren und musste richtig ackern, um ihn wiederzufinden. In dem zweiten Gold steckte viel mehr Arbeit drin." Zudem sprang sie mit 2,02 m zehn Zentimeter höher als in München.
Für die Überfliegerin Nasse-Meyfarth, die 2015 die Aufnahme in die Hall of Fame des Weltverbandes verweigerte und mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in der Nähe von Leverkusen lebt, war der Weg zu "Deutschlands Springerin des Jahrhunderts" steinig. Nach München hagelte es Niederlagen und Kritik, 1976 konnte sie, die Olympiasiegerin, sich nicht mal für Montreal qualifizieren. 1980 boykottierte die BRD die Moskau-Spiele.
"Zwölf Sommer Einsamkeit vergingen", schrieb sie in einem Buch. Doch dann lief der Wettkampf in L.A. "wie am Schnürchen". Sie habe "nur den Fehler gemacht, nach dem Sieg mit 2,02 Metern noch über 2,07 springen zu wollen, Weltrekord. Da war ich ein bisschen übermütig", sagte sie.
Und trotzdem wird Nasse-Meyfarth, die viermalige "Sportlerin des Jahres" (1981 bis 1984), eigentlich nur auf ihren Triumph von München angesprochen.