Mercedes-Geheimnis entlarvt

Kein Team beherrscht das Reifen-Management so gut wie Mercedes. Der Trick besteht darin, den Luftdruck so tief wie möglich zu halten. Wir haben in der Startaufstellung von Baku genau hingeschaut, was Mercedes in den entscheidenden Minuten vor dem Start macht. Und Fotos gemacht.
Die Reifen spielen bei der Vergabe des WM-Titels 2016 eine entscheidende Rolle. Keine Frage. Mercedes hat das beste Auto und den besten Motor. Doch das Paket ist nicht so überlegen, wie es manchmal den Anschein hat. Zum Beispiel in Baku. Nur eine Woche davor in Montreal war Ferrari praktisch gleich schnell. Und 3 Wochen vorher in Monte Carlo hätte Red Bull eigentlich gewinnen müssen. Aus eigener Kraft.
Die extremen Schwankungen haben viel mit der Streckencharakteristik, dem Wetter und der Konditionierung der Reifen zu tun. Die Reifen wiederum benehmen sich jede Woche anders. Je nach Asphalt, Streckentemperatur, Reifen.yp und Set-up. Wer das Reifen.anagement beherrscht, hat den Schlüssel zum Sieg. Mercedes kann es fast immer. Ferrari nur selten. Red Bull hin und wieder.
Höhere Drücke als Antwort auf Trickser
Ein ganz entscheidender Punkt ist die Kontrolle des Reifen.rucks. Pirelli hat die Drücke nach den Reifen.latzern 2015 in Spa generell erhöht. Doch seit dem GP China schießen die vorgeschriebenen Startwerte durch die Decke. 23/20 PSI in Shanghai, 23/19.5 PSI in Russland, 21.5/19.5 PSI in Barcelona, 19.5/18 PSI in Monte Carlo, 21/19 PSI in Montreal und 22/21 PSI in Baku. Die Spirale drehte sich immer höher, als Pirelli merkte, dass einige Teams in der Lage waren, die Startdrücke im Fahrbetrieb zu reduzieren. Oder wenigstens zu halten.
Grundsätzlich gilt: Je geringer der Druck, umso mehr Auflagefläche und Walkarbeit des Reifen.. Das gibt mehr Grip und hilft den Reifen sich von innen zu erwärmen. Bei hohem Druck läuft der Reifen auf einem schmaleren Band und die Lauffläche wird steifer, wodurch sie sich schneller erhitzt. Das drückt aufs Tempo und verringert die Laufzeit des Reifen..
Der Effekt ist am Hinterreifen doppelt so stark wie vorne, weil der Hinterreifen neben Querkräften beim Beschleunigen auch Längskräfte übertragen muss. Hoher Druck verschlechtert die Traktion.
Mercedes hat angeblich immer einen eigenen Reifen.rüfstand dabei, der die Steifigkeit der bereitgestellten Reifen misst. Kleinere Teams wie Force India nehmen die komplizierten Messungen mit einfacheren Werkzeugen vor. Kompliziert, weil die Steifigkeit des Reifen. temperaturabhängig ist. 2 Grad können einen riesigen Unterschied ausmachen.
Force India-Technikchef Andy Green verrät:„Wir machen es am Anfang der Saison von jedem Reifen.yp. Später nur, wenn wir hören, dass Pirelli irgendetwas an den Reifen verändert hat oder sie aus einem anderen Produktionslos kommen.“ Merke: Je besser man die Reifen kennt, umso besser weiß man, wie man sie im entscheidenden Moment vorbereiten und wie man das Auto dafür abstimmen muss.
Es gilt die goldene Regel: Jedes PSI weniger bringt ein Zehntel in der Rundenzeit. Und mehr Runden pro Reifen.atz im Rennen. Klar, dass die Teams alles versuchen, die von Pirelli vorgegebenen Startdrücke nicht weiter ansteigen zu lassen. Oder sie idealerweise abzusenken, sobald die FIA den Startdruck gemessen hat. Das passiert in der Startaufstellung in der Regel in einem Zeitraum zwischen einer und zwei Minuten vor dem Start in die Formationsrunde.
Je höher der Startdruck, umso besser Mercedes
Mercedes hat von allen Teams die beste Antwort gefunden. Je höher die Startdrücke von Pirelli und je höher die Außentemperaturen, umso größer ist die Überlegenheit der Silberpfeile.
Dafür mussten sie sich bei Nässe in Monte Carlo und bei Kälte in Montreal ganz schön abstrampeln, um sich gegen Ferrari und Red Bull durchzusetzen. Es dauerte ewig, bis die Reifen in den Arbeitsbereich kamen. Ein kurzer Blick auf die Startdrücke bei den beiden Rennen. Richtig, sie waren niedriger als bei den anderen Grand Prix.
Je nach Strecke schreibt Pirelli auch den Aufwärmprozess vor. In Baku durften die Teams die Reifen maximal 2 Stunden mit 80 Grad aufheizen und eine Stunde mit 110 Grad. Im Fachjargon heißt die Hitze.Therapie „boosten“.
Es bleibt den Teams überlassen, wann sie die Temperatur in den Heizdecken auf 80, wann auf 110 Grad einstellen. Die FIA will mit ihren Infrarot-Kontrollen nur sicherstellen, dass keiner die Reifen absichtlich überheizt und auf diesem Weg Luft aus dem Reifen kriegt ohne dass der Druck steigt.
Doch was tun, wenn die FIA-Prüfer so kurz vor dem Start den Druck in den Reifen und die Temperatur in den Heizdecken messen? Wir haben in der Startaufstellung des GP Europa in Baku genau aufgepasst und fotografiert, was bis 15 Minuten vor dem Start passiert. Unser Beobachtungsposten: Zwischen Nico Rosberg und Sebastian Vettel. So hatten wir Mercedes und Ferrari im Blick und im Augenwinkel auch noch Daniel Ricciardos Red Bull, der gegenüber stand.
Luftdruck-Kontrolle über Felgentemperatur
Bevor die wie Mondmenschen gekleideten Mechaniker den Mercedes, Ferrari und Red Bull in die Startpositionen schieben, noch ein bisschen Theorie. Das Aufheizen der Reifen während der Fahrt hängt auch vom jeweiligen Setup ab. Normalerweise gehen die Bremstemperaturen in die Felge und von dort in den Reifen. Damit wird der Luftdruck kontrolliert.
Würden die Bremsscheiben zur Felge hin nicht isoliert, würde der Reifen.ruck immer weiter steigen. Weil die Felge die Hitze von der Bremsscheibe aufnimmt. Die Temperaturzufuhr wird über spezielle Abdichtungen der Bremsverkleidung zum Radträger hin geregelt. Auch die Felgenkonstruktion kann das Ablassen der heißen Luft von den Bremsen nach außen unterstützen.
Die meisten Teams haben auf der Innenseite der Felgen Noppen angebracht. Sie wirken wie ein Verstärker, weil sie die Oberfläche vergrößern. Wer kühlen will, kühlt mehr, wer aufheizen will, heizt mehr. Es liegt an den Ingenieuren und Reifen.xperten, wie weit sie das Spiel treiben. Immer abhängig von den äußeren Umständen.
Druck und Temperatur hängen zusammen. Heizt man den Reifen auf, steigt der Druck an. Es gibt Bedingungen, bei denen das unerwünscht ist. Bei Regen oder kaltem Wetter wie in Montreal haben die Teams gerne schnell Hitze im Reifen. Doch bei dem Großteil der Rennen stehen alle vor der Frage: Wie kriegen wir den Luftdruck runter?
Radträger werden auf 200 Grad vorgeheizt
Bevor der Mercedes die Garage verlässt, um auf die Startaufstellung zu fahren, wird schon in der Garage alles maximal vorgewärmt: Die Radträger, die Achsen, die Bremsen. Sobald das Auto auf seinem Startplatz steht, kommen die Dummy-Reifen runter, und innerhalb einer Minute werden die Bremsen und Achsen mit einer speziell dafür konstruierten Karbonglocke abgedeckt. Um die Hitze im System zu halten.
Zusätzlich wird ihnen über die Bremsbelüftungen heiße Luft zugeführt. Die Anschlüsse zu den Bremsschächten sind passgenau und luftdicht abgeschlossen. Wir erkennen auf dem Heizgerät eine Temperatur von 200 Grad vorne und hinten.
Ferrari befindet sich auf diesem Gebiet noch im Mittelalter. Zwei Mechaniker haben in Baku mit einem besseren Haarfön in die hinteren Bremsbelüftungen geblasen. Es ist eine erste Reaktion auf das, was man zuvor bei Mercedes beobachtet hat. Von Abdeckungen nichts zu sehen. Red Bull heizt professionell auf, hat aber auch keine Achsen-Wärmer, wie es im Formel 1-Jargon mittlerweile heißt.
Wenn die Rennreifen beim Fünfminuten-Signal ans Auto kommen, müssen Reifen, Bremsen und Radträger so heiß wie möglich sein, um den Luftdruck und die Temperatur möglichst lange im Reifen zu halten. Vor der Montage sind die 4 Reifen absichtlich ganz eng gelagert, damit die Hitze von einem Reifen zum anderen überspringt. Experten sagen uns, dass natürlich die Boost-Temperatur anliegt.
Würde der Reifen auf einen nicht vorgewärmten Radträger gesteckt, würde er sofort Druck verlieren. Trotz der Heizdecken. Der Druck würde jede Minute um 0,1 PSI sinken. Bis er sich bei dem Druck stabilisiert, der von der Heizdecken-Temperatur aufgefangen wird. Das ist natürlich nicht erwünscht. Deshalb die ganze Aufheizerei. Die komplette Rad-Umgebung muss so heiß wie möglich bleiben, solange das Auto noch steht.
Beim Fahren fällt Temperatur sofort um 100 Grad./strong>
Ein Insider verrät uns: „Wenn der Startdruck 21 PSI beträgt und du das Rad auf einen heißen Radträger steckst, kann er schnell erst einmal auf 22 PSI ansteigen, bis er anfängt wieder leicht zu fallen. In den letzten 5 Minuten ist der Reifen am verwundbarsten gegen Druckverlust. Deshalb musst du alles tun, damit die Temperatur in diesen 5 Minuten nicht zu stark sinkt. Sollte der Druck zum Mess-Zeitpunkt drüberliegen, kannst du ihn auf den Startwert ablassen.“
Im Gegensatz zu denen, die gar nichts machen, haben die Trickser einen Spielraum. „Du weißt, dass die ganze Hitze, die du im Bremsschacht, in den Scheiben und im Radträger gespeichert hast, beim Fahren sofort verschwinden wird. Die Temperatur fällt schnell um 100 Grad und du verlierst rund ein PSI. Der Druck pegelt sich je nach Kühlung der Bremsen und Felgen dort ein, wo du ihn haben willst.“ Bei den Besten unter dem Startwert.
Aber steigt er dann nicht wieder an, wenn im Rennen hart gefahren wird? „Mit jeder Runde wird mehr Reifen.ummi abgehobelt. Das bedeutet weniger Gummi, weniger Bewegung, damit weniger Hitze. Der Druck steigt dann nie mehr. Das ist natürlich bei allen so. Aber du hast halt schon niedriger angefangen.“
Doch wo ist der Vorteil? Ganz einfach. Wer vorwärmt, hat wie im Fall Baku beim Losfahren Startdrücke von 22/21 PSI bei, sagen wir, 200 Grad. Wer nichts tut, hat zwar die gleichen Startdrücke, aber bei nur 100 Grad. Setzt sich das Auto in Bewegung, verliert der eine 100 Grad und damit 1 PSI Reifen.ruck. Beim anderen tut sich gar nichts. Er fährt also ständig mit einem Handikap.
Die FIA wird möglicherweise dem ganzen Zauber bald ein Ende setzen und die Startdrücke nicht mehr am Auto sondern noch vor der Montage der Reifen messen. Mercedes sieht dem gelassen entgegen. Das bedeutet nichts anderes, als dass sie offenbar noch andere Tricks auf Lager haben. Auch Force India wäre froh, wie Andy Green bestätigt: „Wenn die Heizerei verboten würde, gut so. Das Ganze kostet nur einen Haufen Geld.“