Stephen-King-Verfilmung "The Life of Chuck": Liebesbrief an das Leben

Regisseur Mike Flanagan (47) und das Horror-Genre sind für gewöhnlich unzertrennlich. Ob Serien wie "Midnight Mass" und "Der Untergang des Hauses Usher", oder Filme wie "Still" und "Ouija: Ursprung des Bösen". Speziell Verfilmungen von Stephen-King-Romanen, der seine Bücher gefühlt schneller schreiben kann, als manch einer die Klappentexte zu lesen vermag, haben es Flanagan zuletzt angetan.
Auch "The Life of Chuck", der am 24. Juli in die deutschen Kinos kommt, fällt in diese Kategorie. Soll heißen: Es handelt sich um eine King-Adaption und wird von Flanagan auf die Leiwand gebracht. Doch auch wenn die augenscheinliche Handlung des Werks es zunächst vermuten lässt, "The Life of Chuck" ist kein fatalistischer Horrorfilm. Kein zynischer Abgesang auf die Welt. Es ist das exakte Gegenteil: Ein gefühlvoller Liebesbrief an diese komische, flüchtige, zuweilen unfaire und widersprüchliche Sache, die wir Leben nennen.
Einfach aufgeben? Darum geht es
Die Welt geht vor die Hunde. Aber nicht schleichend, sondernd im Zeitraffer. Binnen weniger Monate sind Florida und Kalifornien im Ozean versunken, Erdbeben erschüttern die Welt, in Deutschland ist ein Vulkan ausgebrochen. Als erstes verabschiedet sich das Internet, Fernsehen und Stromversorgung sollen bald schon folgen, das Essen wird knapp. Die einzige Profession, die sich keine Sorgen um Beschäftigungslosigkeit machen muss, ist das Bestattungswesen. Schließlich hat die Selbstmordrate rapide zugenommen.
Das Ex-Paar Felicia Gordon (Karen Gillan, 37) und Marty Anderson (Chiwetel Ejiofor, 48) gehört zu den wenigen Menschen, die noch nicht aufgegeben haben. Er ist Lehrer und versucht seinen Schülern (und deren Eltern) so gut es geht Hoffnung zu geben. Sie kämpft im Krankenhaus weiterhin um jedes einzelne Menschenleben. Inmitten des zunehmenden Chaos um sie herum fallen ihnen befremdlich wirkende Werbungen und Plakate auf, die einem Buchhalter namens Charles "Chuck" Krantz (Tom Hiddleston, 44) gewidmet sind: "Charles Krantz, 39 großartige Jahre! Danke, Chuck", steht neben dem Bild eines sympathisch lächelnden Anzugträgers geschrieben. Einzig: Kein Mensch scheint diesen Chuck zu kennen. Und warum wird ihm so innig gedankt, während die Welt stirbt?
Alles hat ein Ende, selbst der Anfang
Der Anfang von "The Life of Chuck" ist das Ende - und umgekehrt. Womöglich fällt es beim ersten Mal sehen gar nicht auf, doch beginnt der Film mit seinem finalen "Kapitel drei" und arbeitet sich chronologisch zurück. Je weniger über die beiden anschließend gezeigten Abschnitte im Vorfeld bekannt ist, umso intensiver fällt das Kinoerlebnis aus. Deswegen nur so viel: Die geschilderte Inhaltsangabe umfasst lediglich grob die erste halbe Stunde des knapp 110 Minuten langen Films.
Ganz frei von Ausnahmen ist die folgende Aussage nicht. Aber in der Regel sind Verfilmungen von Stephen King (77) umso besser, je weniger fantastische Elemente sie enthalten. "Die Verurteilten" hält noch immer den ersten Platz der ewigen Film-Bestenliste der Bewertungsseite "IMDb". Und auch "Misery" mit Oscarpreisträgerin Kathy Bates (77) gilt als eine der besten King-Adaptionen. "The Life of Chuck" setzt zwar auf übernatürliche Aspekte, diese treiben aber eine weltliche und sehr menschliche Geschichte an. Ähnlich, wie es in "The Green Mile" der Fall ist.
Zentrale Inspirationsquelle für die Story - im Original übrigens nur eine Kurzgeschichte - ist der US-amerikanische Lyriker Walt Whitman (1819-1892), genauer gesagt dessen berühmtes Gedicht "Gesang von mir selbst". Die wohl bekannteste Textpassage taucht auch immer wieder in "The Life of Chuck" auf: "Widerspreche ich mir? Gut, dann widerspreche ich mir. (Ich bin groß. Ich enthalte Vielheiten)".
Was wäre, wenn...?
"The Life of Chuck" animiert seine Zuschauerinnen und Zuschauer, aus neuer Perspektive auf ihre jeweils einzigartige Biografie zurückzublicken. Neigt man womöglich dazu, vornehmlich an negative Erinnerungen zu denken und daran zu verzagen? Konzentriert man sich einzig auf das Schöne, geht aber die Gefahr ein, sich damit selbst in die Tasche zu lügen? Oder erlaubt man sich den Blick auf das große Ganze? Alles, was war. Alles, was hätte sein können. Die ergriffenen und verpassten Chancen, die uns erst im Verbund zu der Person machen, die wir heute sind. Chuck wäre so gerne Tänzer geworden, stattdessen jongliert er den ganzen Tag nur mit Zahlen. Warum aber nicht trotzdem in einen spontanen Tanz in der Fußgängerzone ausbrechen?
"The Life of Chuck" ist ein philosophischer, sentimentaler Film, der aber nicht in die Falle tappt, rührselig oder prätentiös zu werden. Das ist neben Flanagans wunderschöner Bildsprache und dem tollen Sound vor allem dem Cast zu verdanken. Ob Chiwetel Ejiofor, Tom Hiddleston, Karen Gillan oder Mark Hamill (73), der den Großvater der Titelfigur spielt: Ihnen allen ist anzumerken, mit wie viel Herzblut es ihnen daran gelegen war, den Film zu dem zu machen, was er geworden ist: ein Kinoerlebnis mit Seltenheitswert, ein zynismusfreier Liebesbrief an das Leben.
Fazit:
Vor rund einem Jahr war Nick Cave (67) zu Gast in der Show von Stephen Colbert (61). Dort sprach er über den Verlust von gleich zwei Söhnen im Alter von 15 und 31 Jahren und wie ihn diese beiden unfassbaren Tragödien geprägt haben. Erst durch sie habe er den Wert des Lebens und die Bedeutsamkeit von Hoffnung verstehen können. Ohne es damals zu wissen, fasste er in perfekten Worten die - dieser Tage umso wichtigere - Botschaft des wunderschönen Films "The Life of Chuck" zusammen:
"Im Gegensatz zum Zynismus muss Hoffnung hart erarbeitet werden, stellt hohe Anforderungen an uns und kann sich oft wie der unhaltbarste und einsamste Ort der Welt anfühlen. Hoffnung ist auch keine neutrale Haltung. Sie ist konfrontativ. Sie ist das kämpferische Gefühl, das Zynismus vernichten kann. Sie besagt, dass die Welt und ihre Bewohner wertvoll und es wert sind, verteidigt zu werden. Sie besagt, dass es sich lohnt, an die Welt zu glauben."